Ein deutsch-thailändischer Kulturaustausch

Er ist beruflich erfolgreich und ein angesehener Mitarbeiter. Privat hat er nicht so viel Glück. Seine Frau verlässt ihn und er muss sich neu orientieren. Feminismus und Frauenrechte sind für ihn negativ besetzte Begriffe. Deswegen kommt er auf die Idee, sich eine sanfte Thailänderin zuzulegen.

In der Nähe seines Arbeitsplatzes findet er einen kleinen Thai-Imbiss, in dem zwei zierliche Frauen arbeiten. Er geht früh dort hin und es sind noch keine Gäste anwesend.

In dem Imbiss gibt es ein ungeschriebenes Gesetz. Der Gast bestellt an der Kasse neben dem Eingang sein Essen, bezahlt, nimmt sich Besteck und setzt sich an einen Tisch, wo er auf seine Essen wartet. Die thailändische Kultur ist ihm völlig fremd. Aber er ist sehr selbstbewusst und schaut der neuen Herausforderung furchtlos entgegen.

Als er den Raum betritt, steht eine Frau hinter der Kasse, um Bestellungen aufzunehmen. Die andere sitzt an einem Tisch, weil sie mit ihrem Mittagessen noch nicht ganz fertig ist. Blitzschnell überschaut er die Lage und weiß was zu tun ist.

Mit großen Schritten geht er an der Kasse vorbei, setzt sich zu der zweiten Frau an den Tisch und beginnt in einem endlosen Wortschwall auf sie einzureden. Gerade so wie ein Versicherungsvertreter, der in pausenlosen Worttiraden solange redet, bis der Kunde nicht mehr folgen kann und schließlich einen Vertrag für eine Versicherung unterschreibt, die er gar nicht braucht.

Die Thailänderin hat gute Umgangsformen und fällt ihm nicht ins Wort. Als er einen Moment Pause macht, sagt sie in höflichem Tonfall: „Ich habe keine Zeit”. Ihre sanften Worte empfindet er als Zustimmung und redet einfach weiter. Als neue Kunden hereinkommen, steht sie schließlich auf, weil die Arbeit ruft.

In den folgenden Tagen setzt er seine Offensive konsequent fort. Auch wenn sie an der Kasse steht, führt er ausdauernde Gespräche, bis er Platz machen muss für neue Kunden. Trotz ihres sanften Äußeren ist die Chefin eine selbstbewusste Frau, die finanziell unabhängig ist und Distanz wahrt zu Menschen, von denen sie nicht mit Respekt behandelt wird.

Eines Tages sieht er ein, dass er bei der Chefin auf Granit beißt. Nun nimmt er die junge Bedienung ins Visier.

Als er am nächsten Tag den Imbiss betritt, flüchtet sie gleich wieder in die Küche, weil sie eine starke Abneigung gegen seine aggressive Gesprächsführung hat. Die Chefin nimmt seine Bestellung auf und erträgt seine weiteren Ausführungen mit neutralem Gesichtsausdruck. Er setzt sich und wartet.

Schließlich muss die junge Bedienung die Küche verlassen und stellt wortlos sein Essen auf den Tisch. Geistesgegenwärtig nutzt er die Gunst des Augenblicks und sagt in selbstbewusstem Ton: „Das Besteck fehlt!” Die serviceorientierte Bedienung geht zum Kasten neben der Kasse und holt Besteck für ihn.

Bisher hat jeder in dieser Situation erkannt, dass das Besteck neben der Kasse steht, damit sich die Gäste selbst bedienen können. Er sieht die Welt mit anderen Augen. Er hat erkannt, dass die Bedienung ein braves Hündchen ist, das er leicht dressieren kann. In den folgenden Tagen genießt er es sichtlich, dass sein braves Hündchen immer wieder losläuft, um ihm das Stöckchen zu bringen.

Ihre offen zur Schau gestellte Abneigung stört ihn nicht. Durch seine langjährige Berufserfahrung kennt er genügend Techniken, mit denen er schwache Persönlichkeiten manipulieren kann. Da aggressive Verkaufsgespräche nicht zum Erfolg führten, probiert er es nun mit „Pace and Lead”. Bei dieser Verkaufstechnik stellt sich der Verkäufer zunächst auf das Umfeld des Kunden ein, um eine emotionale Beziehung aufzubauen, die er anschließend nutzt, um den Kunden in die gewünschte Richtung zu lenken.

Er informiert sich über thailändische Kultur. Am nächsten Tag begrüßt er die Damen scheinbar demütig mit einem thailändischen „Wai” um ihre Sympathie zu gewinnen. Der Widerstand lässt nach, die Bedienung läuft nicht mehr gleich weg, wenn sie das Essen abgestellt hat.

Nach einiger Zeit zeigt die Bedienung sogar eine gewisse Zuneigung. Die Gespräche laufen meistens nach dem gleichen Schema ab. Sie fragt: „Wie geht es dir?” Er darf etwas erzählen. Wenn er sie etwas fragt, antwortet sie nur wenig oder gar nichts. Angesichts ihrer wortkargen Art haben die früheren Verehrer alle schnell aufgegeben. Er bleibt am Ball, das imponiert ihr.

Hier zeigt sich das enorme Potenzial des selbstbezogenen Narzissten. Er lässt sich nicht durch die Schwächen seiner Mitmenschen verunsichern. Selbstbewusst und energisch verfolgt er konsequent die Ziele, die er sich gesetzt hat und lässt alle anderen hinter sich.

Nachdem er sie ein halbes Jahr lang fast täglich bearbeitet hat, ist sie ihm schließlich ergeben. Als er mit dem Essen fertig ist und aufsteht, geht sie auf ihn zu, schaut ihm in die Augen und fragt ihn, ob er morgen wieder kommt.

Er erklärt ihr, dass er morgen keine Zeit hat und erst übermorgen wieder kommen kann. Sein Spiel ist leicht zu durchschauen. Er will sie zappeln lassen, damit sie merkt, wie einsam sie sich ohne ihn fühlt. Dann wird sie erkennen, dass sie nicht mehr ohne ihn leben kann.

Wie wir sehen werden, handelt es sich um eine „Win-Win-Win-Situation”.

 

Erster Gewinner

Der selbstbewusste deutsche Mann erkennt den hohen Stellenwert der deutschen Leitkultur. Mit seinen Fähigkeiten ist er fremden Völkern überlegen und kann Menschen aus anderen Kulturen nach seinen Wünschen steuern. Er sieht einer rosigen Zukunft entgegen. Sein braves Hündchen wird ihn sicher bis ans Ende seines Lebens liebevoll umsorgen.

 

Zweiter Gewinner

Die junge Frau stammt aus einem fernen Land und hat eine völlig andere Sicht der Dinge. Schon seit ihrer Kindheit in einer armen Familie träumt sie von einem Leben im Wohlstand, dass sie nur aus dem Fernsehen kennt. Der Mann bietet ihr die Chance, diesen Traum zu verwirklichen. Für die verbesserte materielle Situation und das gesellschaftliche Ansehen, das sie erwartet, ist sie gerne bereit, seine selbstbezogenen Monologe zu ertragen. Da er so lange um sie geworben hat, ist sie sicher, dass er sie nicht wegen einer anderen verlassen wird.

 

Dritter Gewinner

Was der hochmütige Westler gerne übersieht, ist die tiefe Religiosität der thailändischen Bevölkerung. Die Thais vermitteln ihren Kindern schon in frühen Jahren die Grundlagen des Buddhismus. Für die Besseren bleibt die buddhistische Lehre ein Leben lang die Grundlage ihres Handelns.

Der Koch in dem Thai-Imbiss ist ein praktizierender Buddhist, der Gutes tut und von allem Schlechten Abstand nimmt. Somit hat er sich höherer Hilfe als würdig erwiesen. In der Stunde der Not sieht der Himmel, dass seine Ehe in Gefahr ist und sendet Hilfe.

Am nächsten Tag betritt ein weiser Mann den Thai-Imbiss und überreicht der Chefin einen ausführlichen Artikel über Narzissten und deren Lebenspartner. Verwundert fragt sie ihn, ob er ein Nazi sei. Er erklärt ihr, um was es geht und bittet sie, diesen Artikel ihrer Bedienung zukommen zu lassen.

Der Impfstoff hat eine durchschlagende Wirkung. Alles, was der jungen Bedienung in den letzten Monaten eingeredet wurde, löst sich an diesem Tag in Luft auf. Auch gegen die Bedrohung aus den weiteren Verkaufsgesprächen der folgenden Monate ist sie nun immunisiert.

Fortan leben der Koch und seine Frau glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. Und wenn der Narzisst nicht gestorben ist, baggert er auch heute noch ohne Erfolg.

 

© 2018 G. Trageser