Das Herz der Geschichte

Von William Van Dusen Wishard

ZUSAMMENFASSUNG: Jung gibt uns die erste psychologische Deutung der Geschichte was ihn auf eine Ebene mit Gibbon und Tocqueville stellt. Das Individuum als der Träger der Zivilisation. Afro-amerikanische Träume bestätigen universelle Archetypen. Ansichten der amerikanischen Ureinwohner über die Weißen. Wesentliches der Pueblo Kultur. Afrika und die Rolle der Menschen im Universum. Was deutsche Träume sagten. Die psychologischen Ursprünge des 2. Weltkriegs. Jung diagnostiziert Hitler. Versteht der Westen seinen Schatten?

Möglicherweise gibt es keinen "richtigen" Weg, die Vergangenheit zu erklären. Weil jeder von uns die Ereignisse durch die einzigartige Linse seiner Seele sieht — und keine zwei Seelen sind dieselben — unterscheiden wir uns in unserer Deutung von Ereignissen. Dies ist es, warum die Historiker, von gleichen Daten ausgehend, zu unterschiedlichen Deutungen von Ursache und Wirkung kommen.

Aber die Tatsache bleibt, daß es einigen gegeben ist, die Ereignisse mit einer größeren Klarheit als ihre Zeitgenossen zu verstehen. Im Laufe der Zeit haben einzelne Personen die Geschichte mit einer besonderen Weisheit gesehen. 1776 nahm Edward Gibbon (Verfall und Untergang des Römischen Reiches) die Ereignisse zwischen 100–1500 mit einer Tiefe und einer Breite des Einblickes wahr, welche bis heute nicht erreicht wurde. 1832 schrieb Alexis de Tocqueville (Über die Demokratie in Amerika) eine Beurteilung amerikanischer Errungenschaften und Charaktere die immer noch ihresgleichen sucht. In den dreißiger Jahren schrieb Arnold Toynbee (Menschheit und Mutter Erde. Die Geschichte der großen Zivilisationen) eine bedeutende Abhandlung über die Faktoren, die zur Entwicklung und zum Verfall von Nationen und sogar Zivilisationen beitragen. Jede dieser einzelnen Personen brachte unerreichte Tiefe und neue Sichtweisen in die Analyse der Zeit, die sie untersuchten.

Es war C.G. Jung (1875–1961) gegeben eine Deutung der Geschichte zu artikulieren, die unser Verständnis auf eine andere Ebene gehoben hat. Wie Gibbon, Tocqueville und Toynbee war Jung ein einzigartiger Beobachter von Ereignissen. In den 23 Büchern, die seine Gesammelten Werke, Briefe, Gespräche und Autobiographie umfassen, bot Jung die erste umfassende psychologische Deutung der Geschichte. Inhalte seiner Forschung waren unter anderem die Wendepunkte des zwanzigsten Jahrhunderts — die Hintergründe der Ereignisse, die Hitlers Aufstieg ermöglichten, die psychologischen Ursachen des Wohlfahrtsstaates und die Entstehungsgeschichte des kalten Krieges.

Nie zuvor wurde solch eine Sichtweise zum Ausdruck gebracht. Durch sie haben wir ein Verständnis der dauerhaften Kräfte gewonnen, welche bei der Geburt der menschlichen Geschichte in Bewegung gesetzt wurden. Im Laufe des Jahrhunderts haben Jungs Einsichten solche verschiedene Disziplinen wie Atomphysik, Anthropologie, Philosophie, Kunst, Theologie, Philosophie und Psychotherapie beeinflußt. Über die Auswirkung Jungs auf unser Zeitalter urteilte Londons Sunday Telegraph: "Jung war in einem immensen Grad ... einer der großen Befreier der westlichen Zivilisation."

Ausgebildet als Psychiater, war Jung mehr als das. Psychiatrie war ein Instrument seiner Arbeit, aber nicht die Arbeit selbst. Von schweizerisch-deutschem Ursprung entwickelte Jung, was manche als die weiteste und umfassendste Sichtweise der Seele nennen, die jemals dargestellt wurde. Er formulierte eine vollentwickelte Theorie der Struktur und der Dynamik der Seele in ihren bewußten und unbewußten Aspekten, eine ausführliche Theorie der Persönlichkeitsstrukturen und, möglicherweise das Wichtigste, eine vollständige Beschreibung der allgemein zu findenden ursprünglichen Bilder, die aus den tiefsten Schichten des Unbewußten hervorkommen. Er nannte diese ursprünglichen Bilder Archetypen des kollektiven Unbewußten. Diese Entdeckung ermöglichte es Jung, die auffallenden Ähnlichkeiten zu beschreiben, die in den einzelnen Träumen und Visionen und in den Mythologien aller Zeiten zu finden war.

Das Konzept vom kollektiven Unbewußten gibt der Tiefenpsychologie eine neue Dimension. Es nimmt die Theorie und die Praxis der Psychotherapie und setzt sie in Relation zur vollständigen Entwicklungsgeschichte der menschlichen Seele in ihren verschiedenen Erscheinungsformen wie Kunst, Mythos, Kultur und Religion. Jung bot folglich eine praktische Psychologie an, die nicht nur eine Therapie für Neurosen, sondern auch eine Technik für die psychologische Entwicklung war, die auf jeden Einzelnen anwendbar ist. Denn der Einzelne, erklärte Jung, ist der Träger der Zivilisation.

Die meisten Historiker haben uns eine Chronik der ökonomischen, politischen, technischen und kulturellen Aspekte des Lebens der Völker aufgezeigt. Im wesentlichen sind sie davon ausgegangen, daß der innere, subjektive Bereich des Lebens vergangener Zeiten entweder weitgehend dem heutigen subjektiven Bereich entspricht oder nicht wirklich bedeutend für die Ursache der Ereignisse ist. Es schien nicht wichtig gewesen zu sein, den Verstand eines einzelnen Individuums aus früheren Epochen zu verstehen. Anscheinend wollte man nichts von dem wissen, was Robert Romanyshyn schrieb: "Geschichte ist ein psychologischer Vorgang." In der Tat zeigte Gibbon eine starke Voreingenommenheit gegen das Christentum, während Jacob Burckhardt, der große schweizer Historiker des 19. Jahrhunderts, von einem weltlichen Standpunkt aus schrieb: "Ohne das Christentum hätte vielleicht niemals jemand die Rolle des subjektiven oder unbewußten ernsthaft mit der Entwicklung des Menschen in Verbindung gebracht."

Jung sah dies anders. Er sah die Einzelperson als das Wesen im Inneren der Geschichte. Er sah die sogenannten "großen" Ereignisse der Welt mehr als Konsequenzen denn als Ursachen. "Letztenendes", schrieb er 1933, "ist das Wesentliche das Leben des Individuums. Dies allein macht Geschichte, nur hier finden die großen Veränderungen statt und die ganze Zukunft, die ganze Geschichte der Welt, entspringt schließlich einer gigantischen Summierung dieser versteckten Ursachen in Individuen." In Jungs Sichtweise sind wir in unserem privaten und subjektiven Leben "nicht nur der passive Zeuge unseres Zeitalters ... sondern auch sein Macher. Wir machen unsere eigene Epoche."

Um in einem größeren Umfang zu begreifen wie die persönliche Subjektivität die Ereignisse geformt hat, unternahm Jung weitreichende Studien in der Geschichte der Entwicklung des Verstandes. Er beabsichtigte das innere Leben und Fühlen früherer Zeitalter zu verstehen und zu fühlen, denn seine Studien hatten ihn dazu gebracht zu glauben, daß jeder von uns seelische Rückstände der Vergangenheit in sich trägt. Mit seinen Untersuchungen stieß er weit in die Geschichte zurück, nicht nur bis zu den Griechen, Ägyptern und Sumerern sondern sogar bis in den Dunst der vorzeitlichen neolithischen Kultur — zu den Menschen, welche die ursprüngliche Form der Schöpfung darstellten. Seine Schlußfolgerung war aufsehenerregend: Unter unserer bewußten Intelligenz trägt jeder von uns die entwickelte Intelligenz der Menschheit in sich — das "Kollektive Unbewußte." Jeder trägt in sich die Reste der Zeit als die Natur — und nicht das menschliche Ego-Bewußtsein — die Oberhand hatte. Dies, sagte Jung, ist "der 2 Millionen Jahre alte Mensch, der in uns allen ist," ein Konzept, welches er 1936 in einem Interview mit der New York Times erklärte.

Als Jung die Geschichte des Verstandes studierte sah er Muster, die allen jemals bekannten Kulturen gemeinsam zu sein schienen. Wie Anthony Stevens in seinem Werk The Two Million-Year-Old Self aufzeigt, haben alle menschlichen Gemeinschaften, auch die "Primitiven", schon immer Gesetze gehabt für Besitz, Vorschriften für Rechtsprechung und Heirat, Verhaltensregeln für die Art des Grüßens und der Anrede, Regeln für die Zusammenarbeit, das Geschenke geben, die Durchführung von Beerdigungen, das Zitieren von Mythen und Legenden, Wege um Streit zu schlichten, Tabus bezüglich Nahrung und Inzest, Interpretation von Träumen, usw.

Jung definierte all diese Verhaltensmuster als ein offensichtliches Zeichen von dem was er "Archetypen" nannte oder auch universelle Motive die aus dem kollektiven Unbewußten stammen. Diese Archetypen sprechen zu uns durch unsere Träume, Religionen und Mythen. Ein Archetyp ist weder passiv noch träge, sondern eine dynamische, autonome Kraft, die unsere Taten auf Wege lenkt, welche uns nicht bewußt sind. In der Sicht Jungs ist das, was jeder von uns im Leben erfährt, nicht alleine durch unsere persönliche Geschichte oder bewußten Neigungen bestimmt. Es ist auch durch die kollektive Geschichte der menschlichen Rasse als ein ganzes geformt, eine Geschichte, die im kollektiven Unbewußten biologisch codiert ist. Dies ist das Gebiet wo, wie Laurens van der Post geschrieben hat, "alle Menschen einer sind, wo die Bruderschaft der Menschen schon existiert." Das Wissen über die Arbeitsweise des Gehirns hat seit der Zeit Jungs viele Bücher gefüllt. Aber Jung ist immer noch der bedeutenste Forscher des 20. Jahrhunderts in der Wirklichkeit des kollektiven Unbewußten.

Um in einem größeren Rahmen zu verstehen, wie die kollektive Geschichte sich in verschiedenen Kulturen in unterschiedlichen Zeiten ausgedrückt hat, ist Jung weit gereist. 1909, während seines ersten Besuches in Amerika, analysierte er die Träume von afro-amerikanischen Patienten im St. Elizabeth's Hospital (für geistig Kranke) in Washington, D.C. Dort enthüllte Jung Motive, die identisch waren mit Mustern aus der griechischen Mythologie. Diese Erfahrung bekräftigte seine Ansicht vom Bestehen eines "allgemeinen menschlichen Charakters", einem Archetypus.

1912 hielt Jung an der Universität Fordham in New York Vorlesungen. Während er sich über die Energie der Amerikaner und die Kraft und Reichweite der Zivilisation, die diese Energie zustande brachte, wunderte, sah er auch eine Gefahr. In einem Interview mit der New York Times mahnte Jung, daß alles was auch immer ein Mensch aufbaut, die Fähigkeit hat, ihn zu zerstören; und dieses Amerika stand vor "einem Moment, in dem es die Entscheidung treffen muß, entweder seine Maschinen zu beherrschen oder durch sie zerstört zu werden." Wenn wir heute das Ende des 20. Jahrhunderts betrachten, fragt sich nicht mehr nur ein einzelner, ob wir tatsächlich unsere Maschinen beherrschen oder ob unsere Maschinen uns beherrschen.

Im Jahre 1920 studierte Jung in Nordafrika Europa von der Perspektive sogenannter "unterentwickelter" Völker. Er war ergriffen von dem langsamen Tempo des nord-afrikanischen Lebens, so unterschiedlich zu dem "Zeitgeist", der den Europäer beherrscht (Amerika eingeschlossen). Dieses überlegte Tempo, folgerte Jung, erlaubt dem Nordafrikaner, ein instinktiveres emotionales Leben zu leben, eine Leben von größerer Intensität. Er fragte sich, ob die Vernunft des Europäers, die nur in den letzten Jahrhunderten erreicht wurde, auf Kosten seiner Vitalität gewonnen worden war.

1924 war Jung noch einmal in Amerika, dieses mal in New-Mexico, bei einem Besuch des Häuptlings der Pueblo Indianer, Ochwiay Biano (Mountain Lake). Seine Dialoge mit dem Häuptling, welche Jung in seiner Autobiographie "Erinnerungen, Träume, Gedanken" aufzeichnete, gaben Jung ein erstes Bild davon, wie nicht-weiße Leute den weißen Mann sehen. Die Weißen, sagte Ochwiay Biano, "suchen immer etwas. Was suchen sie? Die Weißen wollen immer etwas; sie sind immer unruhig und rastlos. Wir wissen nicht, was sie wollen. Wir verstehen sie nicht. Wir denken, daß sie verrückt sind."

"Warum ist das so?", fragte Jung.
"Sie sagen, sie denken mit ihren Köpfen."

Jung zeigte seine Überraschung über diese Antwort und fragte Ochwiay Biano, womit er denkt.

"Wir denken hier, " antwortete der Häuptling und zeigte auf sein Herz.

Jung war tief betroffen und schrieb später: "Was wir von unserem Standpunkt Kolonialisierung, Missionierung der Heiden, Ausbreitung der Zivilisation usw. nennen, hat ein anderes Gesicht — das Gesicht eines Raubvogels, der mit grausamem Eifer nach einer fernen Beute sucht — ein Gesicht wie bei einer Rasse von Piraten und Straßenräubern."

Aber Jung sollte noch eine andere Lektion von Ochwiay Biano lernen. Während er nicht erwartet hatte, daß der Häuptling über Religion reden würde, ein Thema, über das Pueblo Indianer nicht gerne mit jemandem reden, am wenigsten mit Weißen, öffnete der Häuptling selbst die Türe.

"Die Amerikaner wollen unsere Religion zertreten," sagte er. "Warum können sie uns nicht in Ruhe lassen? Was wir tun, tun wir nicht nur für uns selbst, sondern auch für alle Amerikaner. Ja, wir tun es für die ganze Welt ... Wenn wir es nicht tun würden, was würde dann aus der Welt?"

Jung spürte, daß Ochwiay Biano anfing, die heiligen Geheimnisse seines Volkes zu berühren. "Schließlich " fuhr der Häuptling fort, "sind wir ein Volk welches auf dem Dach der Welt lebt; wir sind die Söhne von Vater Sonne, und mit unserer Religion helfen wir täglich unserem Vater den Himmel zu überqueren. Wir tun dies nicht nur für uns selbst, sondern für die ganze Welt. Wenn wir aufhören würden unsere Religion auszuüben, würde in 10 Jahren keine Sonne mehr aufgehen. Dann wäre es für immer Nacht."

Plötzlich verstand Jung den Ursprung der Würde und der Fassung des einzelnen Pueblo Indianers. Er ist ein Sohn der Sonne; sein Leben hat eine Bedeutung für das Universum, denn er hilft dem Vater und Erhalter allen Lebens bei seinem täglichen Aufstieg und Untergang.

Später schrieb Jung, "der Gedanke, absurd für uns, daß eine rituelle Handlung die Sonne magisch beeinflussen kann, ist bei genauerer Prüfung, nicht weniger unvernünftig aber viel Vertrauter als man es zunächst annehmen möchte. Unser christlicher Glauben ist durchdrungen von dem Gedanken, daß spezielle Handlungen wie bestimmte Riten oder Gebete oder eine gewisse Moral Gott beeinflussen können. Daß der Mensch sich in der Lage fühlt eine Beziehung zu dem übermächtigen Einfluß des Schöpfers zu formulieren, und daß er etwas darstellen kann, welches auch für Gott lebensnotwendig ist, erhebt das menschliche Individuum zur Würde eines metaphysischen Faktors. Solch ein Mensch ist in der vollsten Bedeutung des Wortes an einem angemessenen Platz."

Jungs Aufenthalt in Kenia und Uganda im Jahre 1925 sollte ihm ein neues Verständnis für die Konsequenzen des westlichen Kolonialismus geben. Er fragte einen Medizinmann nach seinen Träumen und die Rolle, die sie im Leben seines Stammes spielen. "In den alten Tagen," antwortete der Medizinmann, "hatte der Medizinmann Träume und wußte, ob es Krieg oder Krankheit gibt, oder ob Regen kommt und wo die Herden hingetrieben werden sollten." Aber seit die Weißen in Afrika sind, sagte er, hatte niemand mehr irgendwelche Träume. "Träume sind nicht mehr notwendig, weil nun die Engländer alles wissen." Jung stellte fest, daß der Medizinmann seine Daseinsberechtigung verloren hatte. Die göttliche Stimme, die dem Stamm geraten hatte, wurde nicht mehr benötigt, weil "die Engländer es besser wissen." In Wirklichkeit war der ursprüngliche Ausdruck des natürlichen menschlichen Geistes — den der Afrikaner verkündet — durch die Auferlegung der westlichen rationalisierten Sitten, der denkenden und administrativen Strukturen verdrängt worden.

Aber Ostafrika sollte Jung einen seiner tiefsten Einblicke in die Bedeutung der menschlichen Existenz bieten. Bei einem Besuch der Athi Plains, einem von Kenias großen Reservaten, wurde er durch den stillen Anblick der ausgedehnten Savanne, die sich weit über den Horizont ausbreitet, überwältigt — die Gazelle, die Antilope, das Zebra und das Warzenschwein, die sich graziös vorwärts bewegen wie langsame Flüsse. Dieses war die "Ruhe des ewigen Seins, " die Welt, wie sie gewesen war, bevor der Menschen einen bewußten Zustand erreichte.

Als er diese Stille erfuhr, stellte sich Jung die kosmische Rolle des Menschen vor. "Der Mensch ist für die Vollständigkeit der Schöpfung unentbehrlich, denn es ist alleine der Mensch, welcher der Welt ihr objektives Bestehen gibt." Ohne dieses Bestehen schrieb er, würde das Leben durch Hunderte Millionen von Jahre in der Nacht des nicht-Seins fortschreiten. Es ist das menschliche Bewußtsein, welches objektives Bestehen und Bedeutung schafft. "Soweit wir erkennen können, ist der alleinige Zweck der menschlichen Existenz, ein Licht in der Dunkelheit des bloßen Seins anzuzünden." Das menschliche Wesen, sagte Jung, ist das bewußte Erkennen der Erde und möglicherweise des Universums.

Im Jahre 1918, als Jung die Bedeutung der Träume seiner europäischen Patienten studierte, schrieb er seine Beobachtung des "Biestes" auf, das bereit war"mit verheerender Konsequenz" auszubrechen, was bedeutet, daß "die christliche Sicht der Welt ihre Berechtigung verliert." Er beobachtete, daß besonders bei seinen deutschen Patienten "eine eigenartige Störung," Bilder von Gewalttätigkeit, Grausamkeit und Depressionen zu finden sind, welche nicht durch die persönliche Psychologie erklärt werden könne. Vielmehr schien dies etwas in der kollektiven deutschen Seele darzustellen. Jung, der als Schweizer-Deutscher ein Teil der deutschen Kultur war, wandte seine Aufmerksamkeit dementsprechend dem Geisteszustand zu, der in der deutschen Nation vorherrschte. Seine Schlußfolgerung war, daß das "Entchristlichte Weltbild der Menschen" zu einem Aufstreben der unbewußten Kräfte führte, die "alle Energien der Finsternis" darstellten.

Vom Standpunkt der Psychologie sah Jung das Christentum und alle Religionen als ein "psychotherapeutisches System im wahrsten Sinne des Wortes auf hohem Niveau. Sie drücken den vollständigen Umfang psychischer Probleme in mächtigen Bildern aus; sie sind das Bekenntnis und Erkennen der Seele." Er sagte, alle Religionen enthalten auf die eine oder andere Art und Weise Bilder, die die bewußte Verwirklichung und Erfüllung einer ganzheitlichen Persönlichkeit darstellen. Der Verlust der spirituellen Verbindung zur Seele, zu einem transpersonalen Reich, erzeugt eine "Spaltung der Persönlichkeit" oder Neurose. Weitere arbeiten mit Patienten aus vielen europäischen Ländern als auch aus Amerika zeigten Jung, daß dieser Geisteszustand keineswegs auf Deutschland begrenzt war, sondern in zunehmendem Maß für alle Menschen im Westen gültig ist.

So fing Jung an, den vermindernden Einfluß des Christentums auf den westlichen Verstand und die Kultur mit der steigenden Bedeutung der Psychologie in Zusammenhang zu bringen. Es schien, eine spezifische Relation zwischen diesen beiden Phänomenen zu geben. Warum war es so, fragte er sich 1928, daß "die Entdeckung der Psychologie erst innerhalb der letzten Jahrzehnte stattfand." Es kann nur daran liegen, folgerte er, daß "eine geistige Notwendigkeit in unserer Zeit die 'Entdeckung' der Psychologie hervorbrachte." Früher benötigten die Leute keine Psychologie, so wie der moderne Mensch heute. "Während des ganzen Mittelalters," erklärte er 1935 bei einer Sitzung in New York, "war die Psychologie völlig verschieden von dem was sie jetzt ist." Psychologisch gesehen war das Christentum eine Projektion der Gottesvorstellung im Unbewußten, ein Bild, daß das Ordnungssymbol der Seele ist. Aber als die westlichen Menschen immer rationaler wurden und glaubten, "frei von Aberglauben zu sein," wurde der archetyptische Inhalt, der durch das Christentum ausgedrückt wurde, aus seiner Verankerung gerissen. Das Resultat ist weitverbreitete Entfremdung; genauer gesagt, hat der moderne Mensch sich der Gnade der seelischen "Unterwelt" ausgeliefert. Da Rationalismus und Wissenschaftsverständnis an Bedeutung gewannen, wurde die triebhafte Welt unmenschlicher. Technologie, die unseren Kontakt mit der Natur vermindert hat, hat auch die emotionale Energie verringert, die uns die Verbindung mit der Natur gab. Zeitgenössische Menschen, schrieb Jung für die Europäische Revue in Berlin, "haben alle metaphysische Sicherheit ihrer mittelalterlichen Brüder verloren und haben an ihren Platz das Ideal von materieller Sicherheit, allgemeiner Wohlfahrt und Menschlichkeit gestellt." In der Sicht Jungs hatte der westliche Mensch seinen geistigen Glauben an das Reich Gottes durch einen weltlichen Glauben an den Wohlfahrtsstaat ersetzt. Psychologisch ausgedrückt hat der moderne Mensch eine integrierte Persönlichkeit durch ein übersteigertes Vertrauen auf sein Ich-Bewußtsein ersetzt.

Jung gab uns eine der grundlegendsten Beschreibungen von Deutschland in den dreißiger Jahren und vom Aufstieg Hitlers. Er beobachtete, daß wir glauben, in unserer Weltklugheit des 20. Jahrhunderts der modernen Welt gewachsen zu sein und diese Ansicht auf rationalen, ökonomischen, politischen und kulturellen Faktoren basiert. Aber unter dem dünnen Furnier der sogenannten christlichen Zivilisation existiert eine andere Welt von unbewußten seelischen Kräften, eine welche in der deutschen Seele von Wotan dargestellt wird, dem uralten Gott von Sturm, Wut und Raserei (welcher den instinktmäßigen und emotionalen Aspekt des Unbewußten verkörpert). Während es viele Christen in Vorkriegsdeutschland gab, beobachtete Jung, daß "der Gott der Deutschen Wotan ist und nicht der christliche Gott." Der heutige rationalisierte Verstand mag Götter als ursprüngliche Phantasie oder Wunschvorstellung abtun. Dennoch ist es eine Tatsache, daß Götter immer eine Personifizierung seelischer Kräfte waren. Sie abzutun als "unwirklich" vermindert kaum ihre Energie als psychische Faktoren, die die Wirklichkeit formen. Sie fahren einfach fort, ohne unser Bewußtsein zu handeln.

So war es 1936, als Jung über den Gott des Sturms und der Raserei schrieb, der das deutsche Volk ergriffen hatte. "Ein Hurrikan ist in Deutschland losgebrochen, während wir immer noch glauben, daß schönes Wetter ist" schrieb er in der Neue Schweizer Rundschau Zürichs. Was ihn an dem deutschen Phänomen betroffen machte war, daß "... ein Mann, der offensichtlich 'besessen ist' eine vollständige Nation angesteckt hat, in solch einem Ausmaß, daß alles in Bewegung gesetzt wird und begonnen hat zu Rollen auf seinem Kurs zum Verderben." Was Jung in Deutschland sah war die Kollektivierung des Geistes, eine Rückbildung zum vorchristlichen Deutschland in Europas "Stammes-Vergangenheit". Der individuelle Mensch, der das Produkt des Christentums war, wurde durch einen kollektiven dämonischen Geist überwältigt, den Hitler verkörperte. (Jung war mit dieser Ansicht nicht allein. Christopher Dawson hat geschrieben, wie "deutscher Nationalsozialismus" absichtlich "charismatische Führung" verwendete ... "um die unbewußten Kräfte zu mobilisieren, die schlafend im zivilisierten Menschen liegen und sie in Werkzeuge voller Energie" umwandelt).

Trotz Jungs Kommentaren wurde er 1936 von Hitlers Ärzten nach Deutschland eingeladen um den Führer zu analysieren. Eine Einladung, die Jung schnell ablehnte. Obwohl er Hitler nie getroffen hat, schien es, als ob Jung ihn persönlich gesehen hätte und er formulierte eine klare Diagnose seines seelischen Zustandes. Nach Jungs Meinung litt Hitler unter einer "hysterischen Dissoziation der Persönlichkeit", ein Zustand der sich ausdrückte durch "auto-erotische Selbstbewunderung und Selbstbeschönigung, Anschuldigung und Terrorisierung seiner Mitmenschen, Projektion des Schattens, Lügen, Verfälschung der Realität, Bestimmung zu Beeindrucken auf faire oder gemeine Art ..."

In einem Interview von 1938 mit Hearsts Cosmopolitan, drückte Jung seine Ansicht aus, daß Hitler in der Lage war, die Kontrolle über das deutsche Volk für mehr als ein Jahrzehnt zu übernehmen, denn er war ein "Spiegel des Unbewußten aller Deutschen ... ein Lautsprecher welcher das nicht hörbare Flüstern der deutschen Seele verstärkt ..." Man hätte meinen sollen, daß das Blutbad des 1. Weltkrieges genug wäre. Aber das war nicht der Fall, wie es die Wirklichkeit gezeigt hat. Jung schloß dieses Interview mit den Worten "Amerika muß große bewaffnete Kräfte bereithalten um die Welt in Frieden zu halten, oder auch um den Krieg zu entscheiden, falls er kommt. Ihr seid der letze Ort der westlichen Demokratie."

Nach dem Krieg suchte Jung nach der tieferen Bedeutung der Katastrophe, die stattgefunden hatte. Nicht einfach nur die offensichtlichen Faktoren wie der Vertrag von Versailles, der Isolationismus der USA, die große Depression oder Champerlins Torheit in München. Jung untersuchte die tiefere psychologische Ebene, welche am Ende die menschliche Aktivität bestimmt.

Und so schrieb er 1945 in einer der gründlichsten Analysen des 2. Weltkrieges in der Neue Schweizer Rundschau (Zürich), daß "die deutsche Katastrophe nur eine Krise in der allgemeinen europäischen Krankheit war." Schon vor Hitler und sogar schon vor dem 1. Weltkrieg schrieb Jung, daß Symptome von geistigen Veränderungen auf dem Kontinent zu finden sind. "Was ist falsch an unserer Kunst," fragte er, das empfindlichste Instrument welches die Seele der Nation reflektiert? "Wie sind die eklatant pathologischen Elemente in modernen Bildern zu erklären? Atonale Musik?" Dies ist eine Frage, die einige Reflexionen Wert ist, denn sie kommt von einem der begabtesten Psychiater des Jahrhunderts.

Zum Teil, schrieb Jung, war diese Bedingung das Ergebnis der Tatsache, daß das "mittelalterliche Bild der Welt aufbrach und die metaphysische Autorität, die es regelte, sich schnell auflöste." Wenn eine psychologische Projektion, wie die Vorstellung von Gott, aufhört, für die Menschen eine lebendige Wirklichkeit zu sein, erklärte er, geht die Projektion zurück in das Unbewußte; die psychische Vorstellung von Gott ist ein dynamischer Teil der seelischen Struktur. Die Abwertung der Gottesvorstellung als ein lebenswichtiger Faktor hatte die westliche Welt in einem metaphysischen Vakuum gelassen. "Dies ist dann das große Problem, vor welchem das ganze Christentum steht: Wo ist jetzt die Sanktion für Güte und Gerechtigkeit, die einmal in der Metaphysik verankert war? Ist es wirklich nur Gewalt, die alles entscheidet? Ist die letzte Autorität nur der Wille dessen, der gerade an der Macht ist?"

Da die Fragen, die Jung 1945 stellte, heute immer noch genauso dringend sind, als zu der Zeit, als er sie aufwarf, ist es passend, dieses Kapitel mit seinen eigenen Worten zu schließen:

Alles erdenkliche ist für die äußere Welt getan worden: Die Wissenschaft wurde in unvorstellbarem Umfang verbessert, technische Errungenschaften haben einen fast unvorstellbaren Grad der Vervollkommnung erreicht. Aber was ist mit dem Mensch, von dem erwartet wird, alle diese Segnungen in einer angemessenen Weise zu meistern? Er hat es einfach als gegeben hingenommen. Niemand hat sich die Zeit genommen um darüber nachzudenken, daß er sich weder moralisch noch psychologisch in irgendeiner Hinsicht solchen Veränderungen angepaßt hat. So wie ein natürliches, unbedarftes Kind, daß sich über ein neues Spielzeug freut, ohne die geringste Ahnung vom Schatten zu haben, der hinter ihm lauert und bereit ist, es in seiner Gier zu ergreifen und gegen eine immer noch kindliche und unbewußte Menschheit zu wenden ...

Die Frage bleibt: Wie habe ich mit diesem Schatten zu leben? Welche Haltung ist notwendig, um trotz des Übels zu leben? Um ernsthafte Antworten zu diesen Fragen zu finden ist eine vollständige geistige Erneuerung erforderlich. Dies kann nicht umsonst gegeben werden, jeder Mensch muß sich bemühen, sie für sich zu erreichen. Auch können alte Formalismen, die einmal von Bedeutung waren, nicht wieder hervorgehoben werden. Die ewigen Wahrheiten können nicht mechanisch übertragen werden; in jeder Epoche müssen sie von der menschlichen Seele neu hervorgebracht werden.

Europa ignorierte Jungs Einsichten und hat infolgedessen ein halbes Jahrhundert lang in einem geistigen Sumpf umhergeirrt. Die Frage, vor der Amerika steht, wenn das Jahrhundert zu Ende geht und ein Neues anfängt ist, ob wir die Herausforderung erkennen, die Jung schon vor uns darlegte, und folglich zu einem neuen Experiment bereit sind?  

© 1999 William Van Dusen Wishard.

Aus dem Englischen von Günter Trageser